Home

Daniil Charms





Bärenmarke zum Gedicht

Daniil Charms, am 17.12.1905 in St.Petersburg geboren, studierte am Leningrader Elektrotechnikum und am Staatlichen Institut für Kunstgeschichte in der Abteilung Film. Er war großer Verehrer Bachs und Mitglied der futuristischen Künstlergruppe OBERIU. Zu Lebzeiten wurden drei Gedichte, einige Kindergeschichten (angeblich konnte Charms Kinder nicht leiden) und eine Übersetzung von Wilhelm Buschs »Plisch und Plum« veröffentlicht. Unter dem Verdacht der Spionage wird er verhaftet und im Gefängnis vergessen. Charms verhungert während der Blockade der Deutschen Wehrmacht im Leningrader Gefängnis und stirbt am 2.2.1944.

Dietmar Bonnen

Charms trifft Čechov

Das Leben in seiner ganzen unsinnigen Erscheinung

Spätfolgen der russischen Spätavantgarde: Was Daniil Charms mit Čechov, Kabakov und Warhol verbindet.

„Ein bemerkenswert fleißiger und guter Mensch“, so umschreibt Anton Čechov in seinen Aufzeichnungen von der Strafgefangeneninsel Sachalin einen gewissen Ivan Pavlovič Juvačev. Dieser notiert in sein Tagebuch: „Čechov war da“. Die für beide aufzeichnungswürdige Begegnung aus dem Jahr 1890 liest sich heute wie eine Sternstunde aus der russischen Literaturschreibung. Das Aufeinandertreffen der beiden Männer ist um so legendärer, da sie nicht ahnen konnten, daß sich darin russische Literaturgeschichte aus dem 19. ins 20. Jahrhundert hinein imaginär die Hände reichen sollte.

Jener Juvačev, Seeoffizier, linker Sozialrevolutionär und an einer Verschwörung gegen den Zaren Aleksandr II. beteiligt, bleibt acht Jahre in der Verbannung. 1900 gelangt er geläutert von einem überzeugten Atheisten zu einem gläubigen Christen in seine Vaterstadt Petersburg zurück, heiratet 1903 eine Adelige, die ein Frauenasyl leitet und wird 1905 Vater eines Sohnes, den er nach seinem Lieblingspropheten auf den Namen Daniil taufen läßt. Trotz mäßigen Wohlstands schickt der Vater mit streng religiösen Ambitionen und tolstojanischer Gewissenhaft den Sohn auf eins der besten Petersburger Gymnasien, die deutsch-lutheranische Schule des heiligen Petri. Neben drakonischem Regiment umgibt die Lehranstalt ein internationales Flair, offen für alle Stände und Nationalitäten, hier wird neben englisch bei der Lehrerin Elizaveta Harmsen deutsch gelernt. Die Schulbibliothek versorgt mit Lieblingsautoren: Edward Lear, Lewis Carroll, Christian Morgenstern und Wilhelm Busch. Der Vater, inzwischen beruflich zum Sparkassenrevisor gewandelt, kehrt von seinen endlosen Dienstreisen im zaristischen Russland selten nach Hause. Er schickt von fernen Orten Bücher unter dem zwingenden Motto „wenn sie dir gefallen, schicke ich noch mehr“ und fast täglich Briefe. Der spätere Wunsch des Sohns, „Ich will schreiben. Ich will sehr gut schreiben“ erscheint nicht zuletzt als Antwort auf die häufige Abwesenheit des Vaters.

 

 

Das Medium Buch hilft, die Lücke, die der Vater hinterlässt, zu füllen – zumal Daniils frühe Lebensjahre sich hauptsächlich in der Obhut und Gegenwart von Frauen abspielen. Trotz gravierender und unüberbrückbarer Gegensätze teilen Vater und Sohn auch rivalisierende Interessen: Zahlen, Zeichen, Buchstaben, Schriften, Handschriften, Vorzeichen, individueller Aberglaube, Traum, Tagebücher, das tägliche Notieren der Ereignisse, Meteorologie, die Mondphasen, der Wetterbericht, die Kabbala und Pythagoras.

Die Revolution von 1917 und die Bürgerkriegsjahre zersprengen Kindheit, Jugend und das trügerische Heil der Familie, die fluchtartig für einige Jahre die Stadt verlässt, wodurch sie sämtliches Hab und Gut verliert. 1924 provinzialisiert sich nach Lenins Tod das revolutionäre Petrograd namentlich und faktisch zu Leningrad, im selben Jahr debütiert Daniil Ivanovič Juvačev mit ersten Gedichten. Es entsteht sein multipel verwendetes Pseudonym Daniil Charms, das französische charme und englische harm, sprachmagisch vereint, anziehend und bannend zugleich. Die geheimnisvolle Aufladung (charm bedeutet im Englischen auch Talisman) steht programmatisch von Beginn an untrennbar für Leben und Werk.

Charms wird in zahlreichen literarischen Gruppierungen aktiv, darunter Obėriu und Činari; er sucht nach neuen Impulsen für das Theater und gründet mit Gleichgesinnten eine philosophisch-phänomenologische Dichterschule. Es gelingt ihm, dem ausgetretenen Pfad der bereits zurückliegenden klassischen Avantgarde zu entgehen. Auch gerät er nicht in den schlichten Sog einer gegenreaktionären Haltung zum späteren sozialistischen Realismus, der staatsmonopolistischen Kunstdoktrin Stalins. Charms gehört zu jenen eigenwilligen Ausnahmeerscheinungen und erstaunlichen Grenzgängern, die sich im anachronistischen Zwiespalt akribisch überzogener Plansollerfüllung und ausgeprägter Hinwendung zu einer provokanten Fehlerkultur im subalternen Abseits einzunisten verstanden. Mit einem deliterarischen Gestus näherte er sich dem Alltäglichen wie kaum ein anderer und verankerte Sowjetismen als remakes porentief in seinen Texten: "Und die Sanitätskommission, die ihre Runde durch die Wohnungen machte und Kalugin sah, befand ihn für antisanitär und überhaupt zu nichts mehr nutze und befahl dem Hausverwalter, Kalugin zusammen mit dem Kehricht hinauszuschaffen."

 

 

Neben der zum Broterwerb dienenden Kinderliteratur können überhaupt nur zwei seiner Gedichte in frühen Jahren die Zensur passieren. Seine an Majakovskij und Pasternak gerichteten Bittschreiben, bei der Veröffentlichung seiner Lyrik behilflich sein, bleiben folgenlos. Fern von künstlerischem Pathos und Utopien, die in russischen Avantgardekreisen noch für schrille Schocks und den fixen Glauben an einen allmächtigen Künstler gesorgt hatten, notiert Charms im Verborgenen mit Bleistift und Feder, eine Schreibmaschine besitzt er nicht. Im Zeitalter propagandistischer Textinflationen der kommunistischen Lifestylekultur, wie Boris Groys sie benannte, mutiert er zu einem altmodischen Autor der vorgutembergschen Ära. Gedichte, Theaterstücke, Prosa und Notizen trägt er auf lose Blätter, in Schreibblöcke und Hefte ein, die – häufig hieroglyphisch verschlüsselt – die spätere Praxis der Samizdatkultur, der Selbstausgaben, antizipieren.

Charms bedient sich der Papierflut des kommunistischen Lifestyles, sie wird zum Textpool aberwitziger Kreationen. Friedhofsformulare, Karteikarten, Rechnungen der Waschanstalt, Notenblätter oder Vordrucke der Zeitschrift Hygiene und Gesundheit der Arbeiter- und Bauernfamilie treten in absurde Korrespondenzen mit den unliebsamen Werken eines Privatissimos. Jeder offiziell abgesegnete Text kann bei ihm in häretische Kommunion mit dem inoffiziell tabuisierten Diskurs geraten, ein absurdes und zugleich lebensgefährliches Spiel.

Mit einer auferlegt graphomanischen Schreibpraxis hypostasiert er sich, keiner Sache dienen könnend, selbstzensoristisch zum untauglichen, unbegabten und unliebsamen Schriftsteller, womit er in leibhafter Pose aus dem traditionellen Rahmen jener fiktionalen Schreiberlinge und wundersam einsamen Kopisten heraustritt, die durch die Erzählungen Herman Melvilles »Bartleby« und Nikolaj Gogols »Akakij Akakievič« bereits bekannt waren. Seine oft penälerhaft genau abgefaßten Skripten, die er gleichviel mit perforierendem Fehlereinsatz zu zelebrieren weiß, ließen ihn bis zum Rand der Rechtschreibunfähigkeit verdächtig werden: Auf den Einwand: "Sie haben sich verschrieben", antwortet er: "So sieht es, wenn ich schreibe, immer aus".

 

Die unbeholfenen Schriftstücke bemächtigten sich der Ohnmacht eines Autors, der unspektakulär zu einem der herausragendsten Schriftmagier, absurden Sprachspieler und Wortkünstler unversöhnlicher Paradoxien des Alltäglichen gerät. Eintrainierte Kommunikationsregeln ignorierend oder gerade in der regelversessenen Übersteuerung outet sich das Werk sinnfällig in seriell wiederkehrenden Sinn-Fallen: "Mich interessiert nur der 'Quatsch': nur das, was keinerlei praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung."

Čechovs Devise – "Man muß einfach schreiben: Petr Semonovič heiratete Marja Ivanovna. Das ist alles" – findet seine Fortschreibung bei Charms, wo genau genommen zumeist nichts geschieht und auch nicht mehr gesagt wird: "Da ging einmal ein Mensch ins Büro und traf unterwegs einen anderen Menschen, der soeben ein französisches Weisbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles."

Das ungegenständliche Nichts, das der Maler Kazimir Malevič in seinen suprematistischen Bildern in kosmische Harmonie überführte, verkippt Charms, der zu Malevič in achtungsvollem Kontakt stand, in den wiederentdeckten Gegenstand und die realen Schlacken des Alltagslebens, ohne dessen Sinnwidrigkeiten mit Erlösungsmodellen mildern oder gar aufheben zu wollen. Die Welt der Wunder, nach der Charms sich sehnte und immer mit der Praxis einer reinen Literatur verband, suchte und entdeckte er in defekten Zufallsscharnieren und Wurmlöchern der banalen Lebenstextur. Das ereignislose Nichts der Leere, impliziert bei Charms paradoxerweise die gesamte Palette der Fülle, die sich im Mangel des Nichts verbergen kann. Dies führt vor allem wieder zu Čechov, über dessen Werk Dmitrij Merežkovskij zu sagen wußte: „die Einfachheit wird zur Leere – zum Nichtsein; es ist alles so einfach, daß es scheint, als wäre gar nichts da, und man muß genau zusehen, um in diesem Fast-Nichts – Alles zu erkennen“. Mit einem Literaturgrenzen überschreitenden redundanten Null-Schauspiel zwischen Nichts und Allem schwebend wollen die charmsschen Textminiaturen häufig enden, nur um systematisch immer ihr Finale zu verfehlen. Čechov rät bereits: "Meiner Meinung nach muß man, wenn man eine Erzählung geschrieben hat, ihren Anfang und ihr Ende streichen."

 

Der massenmedial selbstsichere Diskurs der stalinistischen Werbemaschinerie multiplizierte mit seinen ebenfalls endlos rotierenden Parolen und Losungen leere Worthülsen, die allerdings nicht vorgeben durften, nicht Nichts zu bedeuten. Genau hierin liegt vermutlich die papierdünne Differenz zwischen Effektkultur totaler Gesellschaften und deren effizienter Unter- bzw. Überspülung aus der Feder von Adepten mit hinterlistig distanzierter Konzeption. Charms gehört zu den ungezählten Autoren, die noch vor ihrem Tod selbst in Nichts aufgelöst mehr als zwanzig Jahre aus dem kulturellen Gedächtnis verschwanden. Bis zur Unlesbarkeit zirkulierten Charms’ Werke in zahllos kopierten Samizdatexemplaren in der sowjetischen Untergrundkultur der 60er Jahre und machten ihn eine Generation verspätet im Verborgenen zu einem der gelesensten Autoren. Die frühen Konzepte der Leere und Müllästhetik kehrten zurück in den sowjetischen Konzeptualismus und die Soz-Art (ein Pendant zur Pop-Art). Charms’ inthronisierter kommunaler Kitsch fand beispielsweise eine Freilegung in den mit Blumenstoffen überzogenen Samizdatalben und Installationen des Künstlers Ilya Kabakov.

Inzwischen liegt eine sechsbändige russische Gesamtausgabe vor, die die Diskussion um einen der bedeutendsten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts zu sichern scheint. Es hieße jedoch den Diskriminierungsprozeß fortzusetzen, wenn man ihn allein im sowjetischen Kulturkontext national und historisch festschriebe. Charms läßt sich erstaunlich zwischen Lewis Carroll, Franz Kafka und Samuel Beckett einreihen. Unbeachtet blieb, daß der Popkünstler Andy Warhol mit seinen seriellen Disasterbildern und multiplen remakes der massenmedialen Glamour- und Konsumwelt wie ein Kopist und später Komplize von Charms einen vergleichbaren Denkzettel der kommerziellen Lifestylegesellschaft Amerikas auszustellen vermochte. Beide, hellwach auf die modernen Wechselmechanismen von Macht und Unterwerfung agierend, teilten eine subtile Neigung vor Todesarten und die sensuelle Gabe, voraussagen zu können. Charms, häufig vom Hunger geplagt, fürchtete nichts mehr, als ihm zu erliegen, während Warhol vor den Folgen einer Operation schauderte. Die Ahnungen beider holte die Realität ein, welche sie doch vor allem quittieren wollten. Warhol starb nach einem für harmlos eingestuften medizinischen Eingriff, und Charms, ein zweites Mal verhaftet, verhungerte 1942 in der Gefängnispsychatrie Leningrads, während deutsche Truppen die Stadt belagerten.

Gudrun Lehmann (2003) FAZ 5.11.2003

           

OBST-Diskographie

als Texter:
• RUSSIAN-GERMAN COMPOSERS QUARTET: Not only for ... Leo Records
• RUSSIAN-GERMAN COMPOSERS QUARTET ...Charms
• LES SAXOSYTHES: Sozusingen
• RUSSIAN-GERMAN COMPOSERS QUARTET kak stranno
OBST Almanach des Jahres 2006
• Lunyala Trio dit & dat